EuGH: Schadensersatz bei rechtswidrigem Ausschluss von Vergabeverfahren

  • 16.08.2024
  • Lesezeit 5 Minuten

In einem Urteil vom 6. Juni 2024 – Rechtssache C-547/22 (INGSTEEL) – hat der Europäische Gerichtshof einem zu Unrecht von einem Vergabeverfahren ausgeschlossenen Bieter einen grundsätzlichen Schadensersatzanspruch wegen „Verlusts einer Chance“ zugesprochen, wenn der Zuschlag rechtswirksam einem Konkurrenten erteilt worden ist. 

Der Gerichtshof betont in seiner Entscheidung, dass die „Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge“ die Mitgliedstaaten verpflichte, denjenigen, die durch einen Verstoß gegen das Unionsrecht bei der Vergabe öffentlicher Aufträge geschädigt worden sind, Schadensersatz zuzuerkennen. Mangels Angaben zur Unterscheidung zwischen verschiedenen Schadenskategorien erfasse die Richtlinie jede Art des diesen Personen entstandenen Schadens, einschließlich des Schadens, der sich aus dem Verlust der Chance ergibt, an dem Verfahren zur Vergabe eines Auftrags teilzunehmen. Ein Schaden könne sich aus dem Umstand als solchem ergeben, dass man einen öffentlichen Auftrag nicht erhält, und als entgangener Gewinn verwirklichen. Der rechtswidrig ausgeschlossene Bieter könne jedoch auch einen gesonderten Schaden erleiden, der dem Verlust der Chance entspreche, an dem betreffenden Vergabeverfahren teilzunehmen, um diesen Auftrag zu erhalten. Deshalb stehe die Richtlinie einer nationalen Regelung oder Praxis entgegen, nach der es grundsätzlich ausgeschlossen ist, dass ein rechtswidrig von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags ausgeschlossener Bieter für den Schaden entschädigt wird, der ihm durch den Verlust der Chance entstanden ist, an diesem Verfahren teilzunehmen.

Vertrauensschaden und entgangener Gewinn
Das deutsche Vergaberecht kennt in § 181 Satz 1 GWB einen eigenen Schadensersatzanspruch des Bieters bei Vergabeverstößen. Erstattungsfähig ist auf dieser Grundlage nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Vorschrift allein der Vertrauensschaden (das sog. negative Interesse des Bieters), nämlich die Kosten der Vorbereitung des Angebots oder der Teilnahme am Vergabeverfahren, nicht ein entgangener Gewinn (das sog. Positive Interesse). Nach § 181 Satz 2 GWB bleiben aber „weiterreichende Ansprüche auf Schadensersatz unberührt“. Praxisrelevant ist hier in erster Linie ein Schadensersatzanspruch nach den Regeln der vorvertraglichen culpa in contrahendo nach § 280 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 311 Abs. 2 und § 241 Abs. 2 BGB. Auch dieser gewährt allerdings grundsätzlich nur einen Ersatz des negativen Interesses. Nach der Rechtsprechung umfasst er nur ausnahmsweise den Ersatz entgangenen Gewinns, nämlich dann, wenn der übergangene oder zu Unrecht ausgeschlossene Bieter den Auftrag bei ordnungsgemäßer Vergabe hätte erhalten müssen und ein Zuschlag an einen anderen Bieter tatsächlich erteilt worden ist (beispielsweise LG Bonn, Urteil vom 21.10.2020 – 1 O 51/20 Rn. 7). Der Bundesgerichtshof verlangt in diesem Zusammenhang, dass dem klagenden Bieter bei objektiv richtiger Anwendung der vergaberechtlichen Bestimmungen, also bei fehlerfreiem Vergabeverfahren, unter Beachtung eines der Vergabestelle gegebenenfalls zukommenden Wertungsspielraums der Zuschlag nach-weislich hätte erteilt werden müssen (BGH, Beschluss vom 06.10.2020 – XIII ZR 21/19, NZBau 2021, 57, Rn. 12). 


Anpassung der Beweisanforderungen - Nachweis der Beweislast
Ob sich diese strenge Kausalitätsanforderung vor dem Hintergrund der aktuellen Rechtsprechung des EuGH wird aufrechterhalten lassen, erscheint zweifelhaft. Zwar gesteht es der EuGH in seiner hier behandelten Entscheidung in Ermangelung einschlägiger Unionsvorschriften den einzelnen Mitgliedstaaten zu, „in ihrer internen Rechtsordnung die Kriterien zu bestimmen, auf deren Grundlage der Schaden, der sich aus dem Verlust der Chance, an einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags teilzunehmen, um diesen zu erhalten, ergibt, festzustellen und zu bemessen ist“. Sie haben dabei aber die europarechtlichen Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität zu beachten, die eine „richtlinienfreundliche“ Umsetzung im nationalen Recht verlangen. Die nationale Rechtsanwendung hat sich daher am grundsätzlichen Ziel der Richtlinie zu orientieren, nicht nur wirksame vergaberechtliche Nachprüfungsverfahren sicherzustellen, sondern nach ihrem Art. 2 Abs. 1 lit. c auch zu gewährleisten, dass (allen) denjenigen, die durch einen Vergabe-verstoß geschädigt worden sind, Schadensersatz zuerkannt werden kann. Sie hat dabei künftig in Befolgung ihrer europarechtlichen Verpflichtung zur möglichst effektiven Umsetzung der Richtlinie („effet utile“) die Auslegung des EuGH zu Grunde zu legen, nach der in Fallgestaltungen wie der vorliegenden nicht nur ein (sicher feststehender) entgangener Gewinn, sondern bereits der Verlust der Chance auf Erteilung des Zuschlags und damit nach unserem Verständnis bereits die Gewinnmöglichkeit bzw. die hinreichend wahrscheinliche Möglichkeit eines Vertragsschlusses zu entschädigen ist. Der wesentliche praktische Unterschied zwischen beiden Begriffen liegti m Beweismaß, das für den Nachweis des Vorliegens eines Schadens und bei dem zu gewährenden Schadensersatz zu beachten ist. Zu strenge Anforderungen an den Nachweis einer sicheren Auftragserteilung an den ausgeschlossenen Bieter bei fehlerfreiem Vergabeverfahren – an Beweislast, Beweismaßstab, Kausalität und Schadensbemessung – dürften im Lichte der EuGH-Entscheidung mit Unionsrecht nicht (mehr) vereinbar sein.


Den Druck auf die Vergabestellen, den Ausschluss eines Bieters vom Verfahren besonders sorgfältig zu prüfen, lässt dies (weiter) ansteigen. Dies gilt umso mehr, als nach der Rechtsprechung des EuGH ein Verschulden des öffentlichen Auftraggebers am Vergaberechtsverstoß nicht zur Voraussetzung eines Schadensersatzanspruchs gemacht werden darf (EuGH, Urteil vom 10.01.2008 – C-70/06 (Portugal), BeckRS 2008, 70012, Rn. 42, 55).

Vielen Dank an Dr. Peter Czermak für seine wertvolle Unterstützung beim Verfassen dieses Beitrages.

Artikel teilen:

Autor dieses Artikels

Dr. Christian Teuber

Partner

Rechtsanwalt, Fachanwalt für Vergaberecht

Offene Fragen zu unseren Services?

Jetzt Kontakt aufnehmen

Kontakt aufnehmen