Wegzugsbesteuerung: Kommt die zinslose Stundung wieder?
- 05.03.2024
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Der Bundesfinanzhof (BFH) hat in einem nun veröffentlichten Urteil vom 6. September 2023 (I R 35/20) zur Wegzugsbesteuerung grundsätzliche europarechtliche Bedenken an der bis Ende 2021 geltenden und der aktuellen Rechtslage geäußert. Die zinslose Stundung einer festgesetzten Wegzugsteuer ist voraussichtlich wieder einzuführen, um die Wegzugsteuer europarechtskonform auszugestalten.
Bei der Wegzugsbesteuerung nach § 6 AStG wird aufgrund der Verlagerung des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts einer natürlichen Person ins Ausland beziehungsweise eines Ersatztatbestands ein Verkauf von gehaltenen Beteiligungen von mindestens 1 Prozent an Kapitalgesellschaften fingiert und eine entsprechende Besteuerung ausgelöst. Während nach alter Rechtslage bis 31. Dezember 2021 grundsätzlich eine zinslose Stundung dieser Wegzugsteuer ohne Sicherheitsleistung bei einem Wegzug in EU- oder EWR-Land bis zu einem Verkauf der Anteile zu gewähren war, gilt für alle Wegzüge ab 1. Januar 2022, dass die Steuer nach der Festsetzung sofort zu entrichten ist und die Liquiditätsbelastung lediglich durch Ratenzahlungen gemindert werden kann.
1. Entscheidung des BFH und des EUGH zur alten Rechtslage
Das Urteil ist zwar noch zur alten Rechtslage ergangen, nach der bei Wegzügen in die Schweiz anders als für Wegzüge in die EU oder im EWR-Raum nicht die Möglichkeit einer zinslosen Stundung der Wegzugsteuer gegeben war. Die Argumente des BFH gelten aber über den entschiedenen Fall nach unserer Einschätzung auch für die Beurteilung der europarechtlichen Zulässigkeit der gegenwärtigen Rechtslage. Der BFH setzt mit dem Urteil die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH vom 26.02.2019 - C-581/17 „“Rs. Wächtler“) um. Die Entscheidung des EuGH führt nach Ansicht des BFH grundsätzlich weiterhin dazu, dass die Wegzugsteuer vom deutschen Finanzamt festgesetzt werden kann. Denn das früher geltende deutsche Steuergesetz zur Wegzugsteuer könne unionsrechtskonform ausgelegt werden. In einem ersten Schritt ist die Festsetzung der deutschen Wegzugsteuer hiernach zulässig. Allerdings lässt der BFH weiterhin in seinem Urteil keine Zweifel daran, dass die Wegzugsteuer aus europarechtlichen Gründen in einem zweiten Schritt bis zur tatsächlichen Anteilsveräußerung dauerhaft gestundet werden muss. Die Stundung muss hierbei für die gesamte Steuer und zinslos erfolgen. Die Finanzverwaltung hatte in einer ersten Reaktion auf das EuGH-Urteil in den Fällen des Wegzugs in die Schweiz und in Anlehnung an die Regelung zur steuerlichen Behandlung von Entnahmen („Entstrickungen“) von Beteiligungen aus einem Betriebsvermögen über die Grenze eine Ratenzahlung über fünf Jahre als ausreichendes Mittel für die europarechtskonforme Besteuerung der Wegzugsteuer angeordnet. Dieser Auffassung der Finanzverwaltung hat der BFH widersprochen.
Begründet wird die Europarechtswidrigkeit sowohl vom EuGH und vom BFH damit, dass andernfalls der Wegzügler ins Ausland einen steuerlichen Nachteil gegenüber dem Steuerpflichtigen erleide, der seinen Wohnsitz in Deutschland beibehalten hätte. Denn letzterer müsste die Steuer für latente Wertzuwächse von Anteilen erst zahlen, wenn diese Wertzuwächse tatsächlich realisiert werden würden. Dies beschränke die Niederlassungsfreiheit. Lediglich die Anforderung einer Sicherheitsleistung vom Steuerpflichtigen soll für die gestundete Wegzugsteuer angesichts möglicher Beitreibungsschwierigkeiten nach Ansicht des BFH noch zulässig bleiben, auch wenn der nicht wegziehende Anteilseigner diese Sicherheitsleistung für Wertsteigerungen nicht erbringen müsse.
2. Auswirkungen auf die neue Rechtslage ab 1. Januar 2022
Grundsätzlich entfaltet das BFH-Urteil nur Wirkung für den entschiedenen Einzelfall. Es bleibt abzuwarten, ob die Finanzverwaltung ihre deutlich strengere bisherige Rechtsauffassung aufgibt oder unter Umständen die Nichtanwendung des Urteils über den entschiedenen Einzelfall hinaus verfügt. Auch die Reaktion des Steuergesetzgebers auf das Urteil wird abzuwarten sein, da es der der gegenwärtigen Rechtslage zugrundeliegenden Annahme des Gesetzgebers, die zwischenzeitlich erfolgte Rechtsprechung des EuGH ließe wieder eine sofortige Besteuerung des Wegzugs eines Anteileigners zu, klar entgegensteht. Auch der nur noch auf Antrag zu gewährenden Ratenzahlung über sieben Jahre steht die Entscheidung des BFH entgegen.
Die Argumente des EuGH und des BFH sind daher unseres Erachtens auch bei der Würdigung der neuen Gesetzeslage zu beachten. Personen, die von Deutschland in das EU-Ausland oder den EWR-Raum umziehen, erleiden insbesondere auch nach der aktuellen Gesetzeslage einen steuerlichen Nachteil gegenüber Steuerpflichtigen, die ihren Wohnsitz in Deutschland beibehalten hätten. Diese Ungleichbehandlung ist nach den Ausführungen des BFH auch geeignet, einen Steuerpflichtigen davon abzuhalten, von seinem an sich gebotenen Niederlassungsrecht und damit der europarechtlich garantierten Niederlassungsfreiheit Gebrauch zu machen.
Eine Einschränkung der Niederlassungsfreiheit kann zwar durch zwingende Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt sein. Das Vorliegen solcher Gründe hat der EuGH jedoch in seinem oben zitierten Urteil zur Rechtslage bis einschließlich 2021 ausgeschlossen. Das dürfte auch bei der aktuellen Gesetzeslage durch die Gerichte ebenso gesehen werden.
Mit dem Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie des Rates zur Gewährleistung einer globalen Mindestbesteuerung und weiterer Begleitmaßnahmen vom 21. Dezember 2023 hat der Gesetzgeber noch eine zusätzliche Benachteiligung für bereits bis Ende 2021 in ein EU-/EWR-Land Weggezogene eingeführt. So wird nach der neuen Gesetzeslage die bis zum Ende 2021 in EU-/EWR-Fällen zinslos zu stundende Wegzugsteuer rückwirkend aufgehoben, soweit die auf den „weggezogenen“ Anteil entfallenden Ausschüttungen oder Kapitalrückzahlungen nach dem 16. August 2023 25 Prozent des bei Wegzug festgestellten Anteilswertes überschreiten. Bereits bei einer Ausschüttungsrendite von vier Prozent würde die Stundung der Wegzugsteuer bereits ab dem siebten Jahr nach Wegzug anteilig widerrufen. Der Weggezogene unterläge ab dem achten Jahr nach dem Wegzug mit einer Ausschüttung sowohl der Ertragsbesteuerung im Zuzugsstaat als auch der nachträglichen Ertragsbesteuerung in Deutschland.
Nach den Entscheidungen des EuGH und des BFH ist nur schwer vorstellbar, dass diese nachträgliche Verschärfung den europarechtlichen Schranken standhalten wird.
3. Handlungsempfehlung
Für die aktuelle Gesetzeslage gilt, dass bei einem Wegzug in ein anderes EU- oder EWR-Land die Wegzugsteuer durch das Finanzamt festgesetzt wird und allenfalls auf Antrag eine Ratenzahlung der festgesetzten Steuer über sieben Jahre gewährt werden kann. Die Ratenzahlung ist dabei in der Regel nur gegen Sicherheitsleistung zu gewähren. So müsste das Finanzamt jedenfalls verfahren, bis verwaltungsintern geregelt wird, wie europarechtskonform vorzugehen ist.
In der Zwischenzeit sollten durch einen Wegzug seit 2022 von der Wegzugsteuer betroffene Steuerpflichtige bei ihrem zuständigen Finanzamt einen Antrag auf dauerhafte zinslose Stundung der Wegzugsteuer unter Verweis auf das oben beschriebene BFH-Urteil stellen.
Ob das Finanzamt diesem zustimmt, ist derzeit nicht abzuschätzen. Bei Ablehnung durch das Finanzamt bleibt nur der kostspielige Klageweg, der möglicherweise wie in dem oben geschilderten Fall auch für das neue Recht bis zum EuGH verfolgt werden müsste.
Bereits vor 2022 Weggezogene haben dringend die Höhe ihrer nach dem 16. August 2023 erhaltenen Ausschüttungen zu prüfen und ins Verhältnis zum festgestellten Anteilswert zu setzen. Wurde die Grenze von 25 Prozent bereits überschritten, besteht unverzügliche Mitteilungspflicht gegenüber dem alten Wohnsitzfinanzamt. Hier ist gegen den Widerrufsbescheid vorzugehen und notfalls der Klageweg zu beschreiten.
Alle anderen Weggezogenen sollten ihre Ausschüttungen im Blick behalten und prüfen, ob sich die Rechtslage bis zum Erreichen ihrer persönlichen 25-Prozent-Grenze wieder positiv geändert hat.