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Fusionen und Übernahmen können nun auch noch nachträglich einer kartellrechtlichen Kontrolle unterzogen werden.
Mit Urteil vom 16. März 2023 entschied der EuGH in seinem „Towercast“-Urteil, dass Unternehmenszusammenschlüsse neben der bisherigen ex ante-Kontrolle durch die fusionskontrollrechtlichen Vorschriften auch einer nachträglichen (ex post-) Kontrolle am Maßstab des kartellrechtlichen Missbrauchsverbots zu messen sein können, sofern die fusionskontrollrechtlichen Schwellenwerten nicht überschritten und die Zusammenschlüsse damit nicht anmeldepflichtig waren.
Hintergrund ist ein Rechtsstreit zwischen der Towercast SASU und der französischen Wettbewerbsbehörde. Nachdem die Télédiffusion de France (TDF) den Konkurrenten Itas übernommen hatte, verblieb auf dem französischen Markt für Dienstleistungen der terrestrischen Übertragung von digitalem Fernsehen nur noch Towercast als weiterer Wettbewerber. Da der Zusammenschluss TDF/Itas aber weder die nationalen noch die europäischen Schwellenwerte für das Eingreifen der Vorschriften über die Fusionskontrolle überschritt, war er nicht zur Europäischen Kommission oder nationalen Kartellbehörden anmeldepflichtig.
Hiergegen beschwerte sich Towercast bei der Autorité de la concurrence, der französischen Wettbewerbsbehörde, mit der Begründung, die Übernahme stelle einen Missbrauch einer beherrschenden Stellung seitens TDF dar, da sie den Wettbewerb auf den vor- und nachgelagerten Großkundenmärkten für die Übertragung von DVB-T behindere, indem die beherrschende Stellung von TDF auf diesen Märkten erheblich verstärkt werde.
Nachdem die französische Kartellbehörde ein missbräuchliches Verhalten durch TDF nicht als erwiesen ansah und dies vor allem auch mit einer strikten Trennung der Anwendung von Fusions- und Missbrauchskontrolle begründete, endete das Verfahren im Instanzengang schließlich in einer Vorlagefrage zum EuGH. Kern dieser Frage war, ob Unternehmenszusammenschlüsse, welche die fusionskontrollrechtlichen Schwellenwerte nicht überschreiten und somit nicht ex ante anmeldepflichtig sind, nachträglich (ex post) darauf überprüft werden können, ob sie einen Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung darstellen.
Die Entscheidung des EuGH Der EuGH bejahte die Anwendbarkeit der kartellrechtlichen Missbrauchskontrolle auf solche Unternehmenszusammenschlüsse, insbesondere aus systematischen Gründen.
Auch wenn Unternehmenszusammenschlüsse nur bei Überschreiten der nationalen oder europäischen Schwellenwerte ex ante einer Anmeldepflicht unterlägen, hieße das nicht, dass dadurch eine ex post Missbrauchskontrolle völlig unanwendbar sei. Die Anwendung des primärrechtlich verankerten Missbrauchsverbots in Art. 102 AEUV könne nämlich durch (unanwendbares) Sekundärrecht der europäischen Fusionskontrollverordnung (FKVO) nicht gesperrt werden. Zudem entspräche die Anwendung der Missbrauchskontrolle in solchen Fällen auch dem Zweck des Schutzes des Binnenmarkts vor Wettbewerbsverzerrungen, und zwar ohne jegliche zeitliche Einschränkung.
Eine mögliche Missbrauchskontrolle bei Unternehmenszusammenschlüssen soll schließlich auch den Wettbewerb vor sogenannten „killer acquisitions“ schützen, d.h. Konstellationen, in denen etablierte Unternehmen (häufig Marktführer) neue (meist junge) Unternehmen auf dem Markt aufkaufen, um diese als potenzielle spätere Wettbewerber im Vorhinein auszuschalten und so ihre eigene Stellung auf dem Markt zu festigen.
Was die Entscheidung für die Praxis bedeutet Aufgrund der Entscheidung des EuGH müssen Unternehmen im Rahmen ihrer Transaktionsplanung einen weiteren Gesichtspunkt im Hinterkopf bzw. auf ihrer Check-Liste haben. Künftig muss nicht nur das Überschreiten der EU-weiten und nationalen Schwellenwerte für das Eingreifen fusionskontrollrechtlicher Vorschriften überprüft werden. Vielmehr muss auch bei Transaktionen, bei denen diese Schwellenwerte (deutlich) nicht überschritten werden, untersucht werden, ob diese möglicherweise als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung nach Art. 102 AEUV bewertet werden können.
Da insoweit auch keine zeitliche Beschränkung eingreift, wird die Rechtssicherheit für Unternehmen deutlich eingeschränkt. Dies gilt auch für bereits in der Vergangenheit abgeschlossene Transaktionen, soweit sich diese möglicherweise erheblich auf die Marktstruktur ausgewirkt haben können. Hier droht nicht nur die Verhängung von Bußgeldern, sondern sind sogar Entflechtungen denkbar.
Schon jetzt zeigen sich erste Folgen der Entscheidung des EuGH. Die belgische Kartellbehörde hat die Untersuchung einer unterhalb der Schwellenwerte liegenden Übernahme in Anlehnung an die neue Rechtsprechung angeordnet. Unternehmen sollten die Praxis der Kartellbehörden und Gerichte daher unbedingt im Blick behalten.
Dr. Stefan Meßmer
Partner
Rechtsanwalt
Oliver Köster, LL.M.
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