Betriebliches Eingliederungsmanagement („bEM“): Welche aktuelle Rechtsprechung und gesetzliche Neuregelung sind zu beachten?
Sind Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig, muss der Arbeitgeber den betroffenen Arbeitnehmern die Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements („bEM“) anbieten. Ziel dieses ergebnisoffenen Verfahrens ist der Erhalt des Arbeitsplatzes, indem die Arbeitsunfähigkeit überwunden und einer erneuten Krankheit vorgebeugt wird.
Doch inwiefern hat ein Arbeitnehmer einen Anspruch auf ein betriebliches Eingliederungsmanagement? Und gibt es nach der Durchführung ein "Mindesthaltbarkeitsdatum"? Das Bundesarbeitsgericht schafft mit zwei Grundsatzentscheidungen Rechtsklarheit bezüglich der bestehenden gesetzlichen Vorschriften: Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 7. September 2021 – 9 AZR 571/20 und Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 18. November 2021 – 2 AZR 138/21.
Mit Urteil vom 7. September 2021 (Az. 9 AZR 571/20) hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) festgestellt, dass Arbeitnehmer keinen Individualanspruch auf Einleitung und Durchführung eines bEM haben. Zudem hat es mit Urteil vom 18. November 2021 (Az. 2 AZR 138/21) judiziert, dass nach Abschluss eines bEM und bei erneuter Erkrankung auch innerhalb eines Jahres ein neues bEM-Verfahren durchgeführt werden muss, da eine nur einmalige Durchführung im Jahreszeitraum nicht aus dem Gesetzeswortlaut hervorgehe.
1. Arbeitnehmer haben keinen Anspruch auf ein bEM
In dem der Entscheidung des BAG vom 7. September 2021 zugrundeliegenden Fall war ein bei einer Gemeinde seit dem Sommer 2000 beschäftigter und schwerbehinderter Arbeitnehmer im Jahr 2018 an insgesamt 122 Tagen arbeitsunfähig erkrankt. Im Zeitraum von Januar bis August 2019 blieb er der Arbeit an 86 Tagen aufgrund von Arbeitsunfähigkeit fern. Den am 2. August 2019 auf Durchführung eines bEM gestellten Antrag des Arbeitnehmers lehnte der als Arbeitgeber fungierende Bürgermeister der Gemeinde ab. Er begründete seine Ablehnung damit, dass die häufigen und langen Erkrankungen in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit den dem Arbeitnehmer zugewiesenen Tätigkeiten stünden.
In den anschließenden Verfahren klagte der Arbeitnehmer auf Durchführung eines bEM und vertrat die Auffassung, dass sich aus der allgemeinen Fürsorgeverpflichtung des Arbeitgebers ein individueller Anspruch der Arbeitnehmer ergebe. Der beklagte Arbeitgeber entgegnete, dass die gesetzliche Vorschrift (§ 167 Abs. 2 SGB IX) keinen Anspruch des Arbeitnehmers vorsehe und einem Arbeitgeber lediglich ein Initiativrecht einräume.
Das Landesarbeitsgericht (LAG) Nürnberg hob die Entscheidung des Arbeitsgerichtes Würzburg, welches der Klage stattgegeben hatte, auf und erklärte, dass auch bei Vorliegen der Voraussetzungen für die Durchführung eines bEM kein klagbarer Anspruch bestehe. Es begründete seine Entscheidung damit, dass sich der Wortlaut des Gesetzes an den Arbeitgeber richte und diesen mit den zuständigen Interessenvertretungen und der betroffenen Person verpflichte, ein bEM durchzuführen. Anderenfalls hätte der Gesetzgeber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Arbeitnehmer die Durchführung verlangen könnten. Auch unter Berücksichtigung des Gebotes der Rücksichtnahme bzw. der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers ergebe sich keine abweichende Wertung. Das BAG hat die Rechtsauffassung des LAG Nürnberg bestätigt und unter eingehender Auslegung der Norm entschieden, dass ein Anspruch eines Arbeitnehmers auf Durchführung eines bEM-Verfahrens nicht bestehe.
2. Ein abgeschlossenes bEM hat kein "Mindesthaltbarkeitsdatum"
In seiner Entscheidung vom 18. November 2021 (Az. 2 AZR 138/21) hatte das BAG u.a. zu beurteilen, ob nach abgeschlossener Durchführung eines bEM ein "Mindesthaltbarkeitsdatum" bestehe. Ein Produktionshelfer, der seit 2001 bei der Beklagten beschäftigt war, konnte seiner Tätigkeit 2017 an 40 Arbeitstagen, 2018 an 61 Arbeitstagen und 2019 an 103 Arbeitstagen aufgrund von bestehender Arbeitsunfähigkeit nicht nachgehen. Anfang März 2019 hatte die beklagte Arbeitgeberin mit dem Arbeitnehmer ein Gespräch zur Durchführung eines bEM geführt. Der Arbeitnehmer erkrankte im weiteren Verlauf des Jahres erneut für 79 Arbeitstage. Nach Ausspruch einer unter Verweis auf seinen Gesundheitszustand erfolgten Kündigung reichte der Arbeitnehmer Kündigungsschutzklage ein und obsiegte höchstinstanzlich.
Die Richter des BAG führten aus, dass durch die Beklagte nicht dargelegt werden konnte, dass mit Hilfe eines (weiteren) bEM keine milderen Mittel als die Beendigung des Arbeitsverhältnisses hätten erkannt oder entwickelt werden können. Die Beklagte könne sich nicht darauf berufen, dass bereits innerhalb eines Jahres ein bEM durchgeführt wurde. Der Gesetzeswortlaut konkretisiere die tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm und beziehe sich lediglich auf den Bezugszeitraum der Arbeitsunfähigkeit. Der Sinn und Zweck der Durchführung eines bEM bestehe darin, durch geeignete Gesundheitsprävention das Arbeitsverhältnis möglichst dauerhaft zu sichern. Bereits bei Überschreitung der Ausfallzeiten von sechs Wochen bestehe die unverzügliche Verpflichtung des Arbeitgebers zur Durchführung eines bEM. Ein weiteres Zuwarten ließe die Bestandsgefährdung nicht entfallen und führe vielmehr zu weiteren Fehlzeiten. In einem vorangegangenen und abgeschlossenen bEM-Verfahren können zudem nur Erkrankungen und betriebliche Abläufe und Verhältnisse berücksichtigt werden, die bis dahin ursächlich waren. Krankheitsursachen und betriebliche Verhältnisse können sich aber nach dessen Durchführung ändern, sodass ein erneutes Verfahren hätte initiiert werden müssen, da ein "Mindesthaltbarkeitsdatum" von einem Jahr nicht in das Gesetz hineingelesen werden könne oder sich aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift ergebe.
3. Arbeitnehmer dürfen eine beliebige Vertrauensperson hinzuziehen
Mit gesetzlicher Neuregelung dürfen zu einem bEM-Gespräch eingeladene Arbeitnehmer seit dem 1. Januar 2022 eine Vertrauensperson ihrer Wahl hinzuziehen. Dies können auch Rechtsanwälte sein. Ein Einverständnis des Arbeitgebers ist damit nicht mehr erforderlich.
Mein Praxishinweis
Als Arbeitgeber sollten Sie Ihren Arbeitnehmern auch ohne gesetzlichen Anspruch auf Einleitung und Durchführung eines bEM unverzüglich ein solches anbieten, sofern Ihre Arbeitnehmer Ausfallzeiten von über sechs Wochen innerhalb eines Jahres aufgrund von Arbeitsunfähigkeit aufweisen. Zwar besteht kein gesetzlicher Anspruch hierauf. Anderenfalls kann aber eine auf die Ausfallzeiten gestützte Kündigung wegen ggf. bestehender milderer Mittel als unverhältnismäßig und damit für unwirksam erklärt werden. Nach Abschluss eines bEM-Verfahrens gilt der gleiche Grundsatz wie vor dem Verfahren: Bei einer abermalig länger als sechs Wochen bestehenden Arbeitsunfähigkeit (innerhalb eines Jahres) ist die Einleitung eines neuen bEM-Verfahrens notwendig, um dem Grundsatz der Gesundheitsprävention zum Erhalt des Arbeitsplatzes zu genügen.