Rentennähe darf bei betriebsbedingten Kündigungen berücksichtigt werden
Ein Fall aus den jüngst ergangenen Urteilen des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zeigt, dass der Arbeitgeber im Rahmen einer betriebsbedingten Kündigung bei der erforderlichen Sozialauswahl die Rentennähe eines Arbeitnehmers berücksichtigen darf.
BAG Urteil vom 8. Dezember 2022 - 6 AZR 31/22 - Vorinstanz: Arbeitsgericht Dortmund, Urteil vom 9. Dezember 2020 - 10 Ca 1380/20, Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 3. Dezember 2021 - 16 Sa 152/21
Eine im Jahr 1957 geborene Frau war 48 Jahre bei ein und demselben Arbeitgeber beschäftigt. 2020 musste jedoch das Unternehmen, bei dem sie angestellt war, Insolvenz anmelden. Ein beauftragter Insolvenzverwalter schloss einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat, demnach 61 der knapp 400 Beschäftigten im März 2020 gekündigt werden sollten, u. a. die erwähnte Frau.
Da sie die Kündigung für unwirksam hielt, reichte sie drei Monate später im Juni eine Klage ein. Der beklagte Insolvenzverwalter betrachtete die an die Frau gerichtete betriebliche Kündigung jedoch für rechtens, da die Klägerin sozial am wenigsten schutzwürdig sei. Sie habe nämlich als einzige die Möglichkeit, ab Dezember 2020, also in weniger als neun Monaten, eine Altersrente für besonders langjährige Beschäftigte zu beziehen.
Nach Betriebsstilllegung und Gegenklage verhandelt Insolvenzverwalter erneut mit Betriebsrat
Der Insolvenzverwalter und Betriebsrat einigten sich auf einen zweiten Interessenausgleich. Vorsorglich kündigte der Insolvenzverwalter drei Monate später der Klägerin erneut im September. Einer Sozialauswahl bedurfte es insoweit nicht mehr, da aufgrund der Betriebsstilllegung die Kündigung alle Beschäftigten betraf. Doch auch hiergegen erhob dieselbe Klägerin eine Kündigungsschutzklage mangels Sozialauswahl.
Die zweite Kündigungsschutzklage hat keinen großen Erfolg
Die Vorinstanzen haben beiden Kündigungsschutzanträgen stattgegeben. Die Revision vor dem BAG hatte nur teilweise Erfolg: Einerseits befand das BAG die erste Kündigung ebenfalls für unwirksam, da verschiedene Auswahlkriterien der bei einer betriebsbedingten Kündigung erforderlichen Sozialauswahl nicht berücksichtigt worden sind und die Sozialauswahl somit fehlerhaft erfolgte. Diese ergeben sich aus den §§ 1 Abs. 3, Satz 1 KSchG bzw. 125 Abs. 1, Satz 1, Nr. 2 InsO, wie beispielsweise die Betriebszugehörigkeit oder Unterhaltspflichten. Andererseits stellte das BAG fest, dass bei der Sozialauswahl die Rentennähe der Klägerin und damit die Aussicht einer zeitnahen, abschlagsfreien Rente berücksichtigt werden kann.
Das BAG erklärt Kündigung aufgrund der Rentennähe für wirksam
Die Sozialauswahl schafft soziale Schutzbedürftigkeit, die mit steigendem Lebensalter aufgrund der schlechteren Vermittlungsaussichten zunimmt. Diese, so das BAG, falle jedoch wieder ab, wenn ab dem Zeitpunkt einer Kündigung innerhalb von zwei Jahren ein Ersatzeinkommen in Form einer abschlagsfreien Rente ansteht. Da dies bei der Klägerin der Fall sei, erklärte das BAG die Kündigung für wirksam.
Praxishinweise für Unternehmer
Das Verfahren zeigt, dass die Sozialauswahl im Rahmen einer betrieblichen Kündigung äußerst sorgfältig unter Beachtung der sich aus dem Gesetz ergebenen Auswahlkriterien durchzuführen ist. Dabei ist immer der Sinn und Zweck der sozialen Auswahl zu berücksichtigen. Dieser liegt darin, demjenigen die Kündigung zu erklären, der unter Berücksichtigung der genannten Auswahlkriterien sozial am wenigsten schutzbedürftig ist. In Zuge dessen ist hinsichtlich des Lebensalters auch die Rentennähe als ein Merkmal zu berücksichtigen.