Trotz erfolgreicher Pilotprojekte: Warum stockt das unternehmensweite Ausrollen von Prozessdigitalisierung und Intelligent Automation? Das Thema Digitalisierung ist omnipräsent und aus dem Unternehmensalltag nicht mehr wegzudenken. In gleichem Maße schreitet die intelligente Automatisierung von Prozessen durch Robotic Process Automation (RPA) voran.
Schon vor der COVID-19-Pandemie war RPA das am schnellsten wachsende Segment im Markt für Unternehmenssoftware. Prognosen beschreiben eine nahezu flächendeckende Einführung von RPA bis 2023, da Unternehmen die Vorteile einer Technologie nutzen wollen, die Betriebskosten senkt und gleichzeitig Produktivität, Genauigkeit und Compliance erhöht.
Die Nachwehen der Pandemie haben die Nachfrage nach RPA noch erhöht, da Unternehmen verstärkt nach Möglichkeiten suchen, ihre Agilität zu steigern, Kosten zu optimieren und die Resilienz gegen zukünftige Prozessstörungen und äußere Einflüsse zu erhöhen.
Die Technologie selbst hat inzwischen einen hohen Reifegrad erreicht und entwickelt sich dennoch in hohem Tempo weiter. Sie erlaubt, in Kombination mit weiteren digitalen Tools wie der optischen Zeichenerkennung „Optical Character Recognition“ (OCR), künstlicher Intelligenz (AI) oder Chatbots inzwischen eine sehr umfassende Prozessdigitalisierung.
Eine Vielzahl von Unternehmen hat zum Thema Digitalisierung bereits Erfahrungen im Rahmen von zahlreichen Pilotprojekten und Proof Concepts gesammelt. Die Pilotierungen waren dabei meist erfolgreich und haben die Erwartungen der Stakeholder erfüllt oder sogar übererfüllt.
Trotz dieser positiven Entwicklung sehen sich Unternehmen damit konfrontiert, dass die Skalierung auf weitere Prozesse und der flächendeckende Einsatz der neuen Technologien schleppend verläuft oder stockt und so Effizienz- und Einsparpotenziale nicht vollumfänglich realisiert werden können.
Warum ist die Skalierung von intelligenten Automatisierungslösungen für Unternehmen herausfordernd? Baker Tilly beleuchtet hierzu sechs Thesen.
These 1: Fehlende bzw. unvollständige Gesamtstrategie für digitale Transformation/Digitalisierung mit klar beschriebenem Zielbild
Unternehmen wissen oft, wo punktuelle Optimierungspotenziale zu finden sind und damit Automatisierungsbedarf besteht. Die Automatisierung dieser isolierten Prozesse steigert zwar die Effizienz der automatisierten Prozessabschnitte, nutzt aber nur in geringem Ausmaß das Potenzial, das mit einer Gesamtstrategie für digitale Transformation erzielt werden könnte. Nur wenige Unternehmen gehen den Schritt von einem ersten Ausprobieren via Pilotprojekten zu einer integrativen und umfassenden End-to-End-Automatisierung. Erst mit einer solchen können versteckte Ineffizienzen und Regelwidrigkeiten aufgedeckt und gelöst werden. Dies setzt aber ein klar beschriebenes Zielbild voraus, das den Ausgangspunkt für eine digitale Transformationsstrategie darstellt. Eine solche Strategie enthält nicht nur Vorgaben für Automatisierungen, sondern stellt den gesamten Kontext des digitalen Unternehmensumfeldes dar, mit vorhandenen und gewünschten Lösungen, und erleichtert die Priorisierung und Integration notwendiger Aktivitäten und Systeme.
Wenn man weiß, wo man hin will, ergibt sich der Weg oft von selbst.
These 2: Mangelnde oder keine Integration der digitalen Lösungen und Prozesse in das Target Operating Modell
Das Zielbetriebsmodell (Target Operating Modell) beschreibt die wesentlichen Rahmenparameter, um den effizienten und effektiven Betrieb im Unternehmen, in diesem Fall für RPA, nachhaltig zu verankern.
Im Rahmen des Starts eines ersten Pilotprojektes findet das Thema Betriebsmodell meist keine detaillierte Würdigung, was sich mit Fortschreiten der erfolgreichen Pilotprojekte und der im Anschluss geplanten umfangreicheren RPA-Aktivitäten (Roll-out) im Unternehmen ändert.
Ein unvollständiges oder nicht vorhandenes Betriebskonzept gefährdet jedoch die RPA-Skalierung nachhaltig, da Fragen wie die Verortung der Verantwortung für den technischen Betrieb der Lösungen, über die Definition und bestmögliche Verortung von Rollen und Verantwortlichkeiten im Unternehmen, bis hin zu einer unternehmensweiten RPA-Governance sowie einer adäquaten Verrechnungssystematik zu beantworten sind.
Dabei ist die Fähigkeit, Automatisierung nachhaltig unternehmensweit zu orchestrieren ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen fortschrittlichen RPA-Plattformen und Nischen-Softwarelösungen.
Unsere Empfehlung ist, dass eine weitgehende Parallelisierung der Aktivitäten, die im besten Fall ab dem Start von Pilotprojekten erfolgen sollte, um die konzeptionelle Definition des RPA-Betriebsmodells nicht zu vernachlässigen. So kann bei absehbarem Erfolg der RPA-Pilotierung, das Thema schnell im Unternehmen bekannt gemacht werden und versetzt das Unternehmen in die Lage, nachhaltig unternehmensweit zu skalieren.
These 3: Fehlende Demokratisierung der Technologie, um „Self-service“-Automatisierung zu ermöglichen (Citizen-developer)
Eine starke Abhängigkeit von externen Dienstleistern für die Prozessautomatisierung, aber auch notwendige Adaptionen bestehender Prozesse, sind Kostentreiber und verlangsamen vielfach die Umsetzung von Automatisierungen bzw. Anpassungen. Zumindest für einfachere Programmierungen sollte in Unternehmen ein Kompetenzcenter (Center of Excellence) geschaffen, mindestens jedoch sollten in Unternehmen geschulte Anwender (Citizen-developer) ausgebildet werden. Die Erfassung, Strukturierung und Automatisierung komplexer Prozesse kann gegebenenfalls ebenfalls internalisiert werden. Dies lohnt sich aber erst ab einer Unternehmensgröße, deren prozessuale Komplexität eine beständige Auslastung des Center of Excellence gewährleistet. Im Regelfall wird es ein Zusammenspiel geben zwischen externen Dienstleistern – die mit der konzeptuellen Erstellung der Transformationsstrategie und der Automatisierung komplexer Prozesse beauftragt werden – und den Citizen Developern, die einfache Automatisierungen und kleine Adaptierungen der bestehenden Automatisierungen selbstständig durchführen können.
These 4: Mangelnde End-to-End-Prozessmodelle/-betrachtungen sowie mangelnder Global Process Ownership als Effizienztreiber
Basis der holistischen, digitalen Transformation sollte ein entsprechendes Zielbild auf Prozessebene sein. Dabei stellen Unternehmen oft fest, dass die Prozessmodelle nicht mehr den aktuellen Ansprüchen genügen oder schlichtweg nicht mehr den aktuellen, gelebten Prozessen entsprechen. Insbesondere im Hinblick auf eine funktionsübergreifende Prozessverantwortung und ein damit verbundenes, vereinfachtes Management von Schnittstellen über funktionale Silos hinweg ist für eine durchgängige Prozessdigitalisierung von hohem Wert. Durch eine End-to-End-Betrachtung der Prozesse werden entsprechende Potenziale besser ersichtlich und konkrete Anwendungsfälle in der Diskussion der Mitarbeiter identifiziert. Damit wirkt ein gut aufgesetztes End-to-End-Prozessmanagement nicht nur weit über RPA-Anwendungsfälle hinaus, sondern versetzt das Unternehmen zudem in die Lage, die gesamte Wertschöpfungskette zu betrachten und die bereits beschriebene Digitalisierungsagenda über Funktionen und Bereiche hinweg zu definieren.
These 5: One Size (RPA-Tool/-Software) doesn't fit all – Use Cases
Märkte sind heutzutage immer vernetzter und komplexer. Entsprechend erfordern auch die RPA-Lösungen, die zur Bewältigung dieser Komplexität benötigt werden, einen nuancierteren Ansatz. Die Auswahl und Etablierung der richtigen Konfiguration der RPA-Infrastruktur sind der Schlüssel zur Schaffung einer robusten, sicheren und skalierbaren Plattform. Sie ermöglicht es Robotern, unabhängig vom Arbeitsvolumen, reibungslos zu arbeiten, schafft Vertrauen in die Technologie bei Führungskräften sowie Anwendern und ermöglicht es Unternehmen den vollen Nutzen aus der Automatisierung zu ziehen. Dabei setzen Unternehmen verstärkt auf Kombinatonen verfügbarer Technologien (z. B. RPA-Tools kombiniert mit AI-Tools oder sogar auf unterschiedliche RPA-Tools), um die Möglichkeit zu haben, differenziert auf unterschiedliche Prozessanforderungen eingehen zu können.
Das Setup der RPA-Infrastruktur kann erheblich variieren, je nachdem, welche Technologie gewählt wurde und welches Automatisierungsmodell zu implementieren ist. Entsprechend ist ein passender Auswahlprozess sowie ein klar kommuniziertes, verstandenes und von den Stakeholdern getragenes Zielbild, welche Prozesse und Anwendungsfälle wie digitalisiert werden sollen, essenziell für den Skalierungserfolg.
These 6: Ausbaufähiges Change-Management und nachhaltiges Upskilling der Mitarbeiter
Widerstände der betroffenen Mitarbeiter können bei jedem Change-Prozess auftreten. Digitalisierungsprojekte sind dafür besonders anfällig, insbesondere wenn, wie im Falle von RPA, Schlagworte wie „Automatisierung“ und „Robots“ nicht ausreichend erklärt werden. Ziel von RPA ist nicht das Wegrationalisieren von Arbeit oder Mitarbeitern, sondern die Unterstützung überlasteter Mitarbeiter, die zu viel Zeit mit ungeliebten repetitiven Prozessen verbringen, und denen zu wenig Zeit für ihre eigentlichen Aufgaben verbleibt. Die Automatisierung soll ein Assistent für die Mitarbeiter sein, den sie benutzen, um sich selbst für anspruchsvollere und interessantere Aufgaben freizuspielen. Diese Widerstände zu vermeiden, setzt eine eingehende Erklärung voraus, was, weshalb und wie automatisiert wird, und welche Vorteile sich für die Mitarbeiter daraus ergeben. Sobald die Automatisierungen umgesetzt sind, zeigt die Erfahrung, dass sich die anfänglichen Widerstände der Mitarbeiter meist rasch auflösen, und vielfach die Mitarbeiter selbst Vorschläge für weitere Automatisierungen vorbringen. Ist dieser Schritt geschafft, beginnt die Transformationsstrategie in einem Unternehmen gelebt zu werden und kann vielfach rascher und weitergehend umgesetzt werden als zu Beginn erhofft.