Massenentlassungen – Kündigungen unwirksam bei Verstoß gegen die Übermittlungspflicht?
Soweit ein Arbeitgeber Massenentlassungen plant, muss er bestehende Betriebsräte rechtzeitig schriftlich informieren, insbesondere über die Gründe der geplanten Entlassungen, den Zeitraum der beabsichtigten Entlassungen sowie den vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer (sog. Konsultationsverfahren, § 17 Abs. 2 KSchG).
Eine Abschrift dieser schriftlichen Unterrichtung hat der Arbeitgeber nach § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG gleichzeitig der Agentur für Arbeit zuzuleiten. Soweit Arbeitgeber diese Zuleitung an die Agentur für Arbeit nicht vornehmen, stellt sich die Frage, ob dies zur Unwirksamkeit aller ausgesprochenen Kündigungen führt.
Das Bundesarbeitsgericht hat mit Beschluss vom 27. Januar 2022 (6 AZR 155/21 (A)) nun den EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens im Zusammenhang mit der Frage angerufen, welche Sanktion ein Verstoß gegen § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG nach sich zieht.
Dem liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Der Beklagte ist Insolvenzverwalter in dem am 1. Oktober 2019 über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin eröffneten Insolvenzverfahren. Der Kläger war seit 1981 bei der Insolvenzschuldnerin beschäftigt.
Am 17. Januar 2020 wurde die vollständige Einstellung des Geschäftsbetriebs der Insolvenzschuldnerin zum 30. April 2020 beschlossen. In diesem Zusammenhang war die Entlassung aller zuletzt noch 195 beschäftigten Arbeitnehmer beabsichtigt. Aufgrund des Stilllegungsbeschlusses fanden mit dem bei der Insolvenzschuldnerin bestehenden Betriebsrat Verhandlungen über den Abschluss eines Interessenausgleichs sowie eines Sozialplans statt. In Verbindung mit dem Interessenausgleichsverfahren wurde auch das im Falle einer Massenentlassung erforderliche Konsultationsverfahren gemäß § 17 Abs. 2 KSchG durchgeführt.
Entgegen § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG wurde jedoch der zuständigen Agentur für Arbeit nicht gleichzeitig eine Abschrift der das Konsultationsverfahren einleitenden und an den Betriebsrat gerichteten Mitteilung gemäß § 17 Abs. 2 KSchG übermittelt.
Mit Schreiben vom 23. Januar 2020 wurde eine Massenentlassungsanzeige erstattet, deren Eingang die Agentur für Arbeit am 27. Januar 2020 bestätigte. Am 28. Januar 2020 erhielt der Kläger die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses zum 30. April 2020. Noch für den 28./29. Januar 2020 beraumte die Agentur für Arbeit Beratungsgespräche für 153 Arbeitnehmer der Insolvenzschuldnerin an.
Mit seiner Klage hat der Kläger die Unwirksamkeit der Kündigung geltend gemacht. Die unterlassene Übermittlung der an den Betriebsrat gerichteten Mitteilung gemäß § 17 Abs. 2 KSchG an die Agentur für Arbeit verstoße gegen § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG, Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 der Massenentlassungsrichtlinie (MERL). Diese enthielten nicht nur eine sanktionslose Nebenpflicht, sondern stellten eine Wirksamkeitsvoraussetzung der Kündigung dar. Die Übermittlungspflicht solle sicherstellen, dass die Agentur für Arbeit so früh wie möglich Kenntnis von den bevorstehenden Entlassungen erhalte, um ihre Vermittlungsbemühungen darauf einstellen zu können. Sie habe von daher arbeitnehmerschützenden Charakter.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen.
Fazit
Das Bundesarbeitsgericht will mit seiner Vorlage zunächst Klarheit über die Auslegung von Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 der MERL zur Information der zuständigen Behörde im Rahmen des Konsultationsverfahrens durch den EuGH herbeiführen.
Nach der bisher ergangenen Rechtsprechung liegt in der fehlenden Zuleitung der schriftlichen Unterrichtung an die Agentur für Arbeit, kein zu einer Unwirksamkeit der Kündigung führender Verstoß vor. Es handele sich lediglich um eine reine Information der Agentur für Arbeit als zuständige Behörde, die auf arbeitsmarktpolitischen Erwägungen beruht, und um keine den Arbeitnehmerschutz dienende Regelung.
Bis zu einer abschließenden Entscheidung sollten Arbeitgeber zur Vermeidung von Nachteilen die schriftliche Unterrichtung des Betriebsrats stets gleichzeitig an die zuständige Agentur für Arbeit übermitteln.
Unabhängig von der hier im Raum stehenden Fragestellung haben Arbeitgeber im Rahmen von Massenentlassungen penibel auf die formalen Vorgaben des Massenentlassungsverfahrens zu achten. Denn das Massenentlassungsverfahren ist aus Sicht des Arbeitgebers bereits jetzt an viele formelle Anforderungen geknüpft, deren Nichteinhaltung zur Unwirksamkeit sämtlicher Kündigungen führen kann.